Wer weiß schon, wie die österreichische Sozialversicherung aufgebaut ist und funktioniert. Jede/r hat zwar damit zu tun - sei es beim Arztbesuch oder bei Pensionsfragen - aber nur wenige wissen, dass die österreichische Sozialversicherung eine ganz besondere Einrichtung ist. Was sie so besonders macht, ist vor allem die sogenannte Selbstverwaltung: Die Sozialversicherung ist keine staatliche Verwaltung des Bundes oder der Länder. Die Sozialversicherung „gehört“ den Versicherten, welche durch ihre Beiträge einen großen Teil der Gesundheitsversorgung und Pensionsleistungen sicherstellen. Noch wichtiger ist aber, dass die Versicherten im Rahmen der Selbstverwaltung ihre Sozialversicherung und deren Leistungen mitgestalten. So entscheidet nicht das Ministerium, welche Behandlungen in Spitälern oder Gesundheitszentren angeboten werden können, sondern die Sozialversicherung. Und über die Selbstverwaltung sprechen die Versicherten ein wichtiges Wort mit: Sie wählen nämlich vor allem über Arbeiter- und Wirtschaftskammer ihre Vertreter*innen in die Entscheidungsgremien der Sozialversicherung.
Grundprinzipien: Pflichtversicherung, Solidarität, Sozialpartnerschaft
Eng mit der Selbstverwaltung verbunden sind drei weitere Besonderheiten der österreichischen Sozialversicherung: Pflichtversicherung, Solidaritätsprinzip und Sozialpartnerschaft. So sind alle Erwerbstätigen automatisch kranken-, pensions- und unfallversichert und verfügen alle über den gleichen Schutz. Die traditionell in Österreich gut funktionierende Sozialpartnerschaft stärkt den gesellschaftlichen Konsens über Aufbau und Leistungen der Sozialversicherung.
Die österreichische Sozialversicherung zeichnet demnach eine hohe Unabhängigkeit von den Regierungen in Bund und Ländern aus. Diese Unabhängigkeit nutzt die Sozialversicherung, um - gestützt auf demokratisch legitimierte Wahlen der Selbstverwaltungskörper - ein umfassendes, hoch qualitatives und bezahlbares Leistungsangebot für die Versicherten sicherzustellen. Selbstverständlich gibt es hier auch noch Verbesserungsbedarf. Dennoch zeigen Vergleiche mit anderen Systemen sowie ein Blick auf den „Public Value“ die Vorteile und Stärken der österreichischen Sozialversicherung.
Public Value und Nachhaltigkeit
Mit dem Public Value wird der Mehrwert der österreichischen Sozialversicherung für die Gesellschaft beschrieben. Dies umfasst neben den eigentlichen Kernleistungen wie Gesundheits-, Pensions- und Unfallversorgung auch darüber hinaus gehende Wirkungen, welche durch das System und die Leistungen der Sozialversicherung erzielt werden.
Die zentralen Public Values sind wohl „Gesund länger leben“ und „In Würde altern“. Eng damit in Zusammenhang stehen auch „Sorgenfreier und selbstbestimmter leben“ sowie „Weniger Armut“ und „Sozialer Frieden“. Aber darüber hinaus konnten weitere Werte für die Gesellschaft erhoben werden, welche auf die Besonderheiten der österreichischen Sozialversicherung zurückzuführen sind.
Selbstverwaltung, Pflichtversicherung, Solidaritätsprinzip und Sozialpartnerschaft „festigen die Demokratie“. Wahlen in die Selbstverwaltungsgremien fördern demokratische Teilhabe und sind gleichzeitig Demokratielernlabore.
Das österreichische Gesundheitssystem lässt sich nicht so einfach zerstören, wie das im staatlichen System Großbritanniens - dem NHS - zu beobachten ist. Während staatliche Systeme durch Regierungs- oder Parlamentsentscheide schnell „reformiert“ und „eingespart“ werden können, stellen die Sozialpartnerschaft und Selbstverwaltung in Österreich sicher, dass die Interessen der Versicherten bei Reformen gewahrt werden.
Die österreichische Sozialversicherung ist „resilient“ und „nachhaltig finanziert“. Sicherlich kann argumentiert werden, dass dies die Reformfähigkeit des Gesundheits- und Pensionssystems einschränkt. Allerdings zeigen die Vergleiche mit anderen Ländern, dass der Leistungsumfang und die Qualität der österreichischen Gesundheitsversorgung und Pensionssicherung Spitzenwerte aufweisen. Im Gegensatz zu privaten Pensionsversicherungen wird auch nicht am Kapitalmarkt spekuliert, sondern die Pensionen werden mittels Umlageverfahren generationengerecht nachhaltig gesichert.
„Gleiche Chancen für alle“ konnte ebenso als Public Value identifiziert werden wie „Sozialer Ausgleich“. Beide sind inhärent im System der Sozialversicherung eingebettet und gehen einher mit der Pflichtversicherung und dem Solidaritätsprinzip, welche alle Erwerbstätigen zu gleichen Bedingungen absichert. „Sozialer Ausgleich“ lässt sich als gesellschaftlicher Mehrwert der Sozialpartnerschaft ableiten.
Zieht man die SDGs - die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN-Sustainable Development Goals) - als Referenzrahmen heran, zeigt sich, dass die Public Values der österreichischen Sozialversicherung in hohem Ausmaß das Erreichen der SDGs unterstützen. So lassen sich alle 19 Public Values den UN-Nachhaltigkeitszielen zuordnen. Andererseits sind diese aber auch als Arbeitsauftrag zu sehen, da sie Bereiche aufdecken, auf welche die Sozialversicherung noch mehr Aufmerksamkeit legen sollte: Dies ist vor allem bei der „Gendergerechtigkeit“ sowie der ökologischen Nachhaltigkeit evident.
Blick in die Zukunft
Die Public Values zeigen: Die österreichische Sozialversicherung bietet Gesundheits- und Pensionsleistungen auf einem sehr hohen Niveau und bringt in vielen Bereichen positiven Mehrwert für die Gesellschaft. Trotzdem: Es geht immer besser. Bei einigen Public Values ist noch Luft nach oben. Aber die Public Values und UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sprechen eine deutliche Sprache: Eine Stärkung der österreichischen Sozialversicherung mit ihren Kernelementen „Selbstverwaltung“, Pflichtversicherung“, „Solidaritätsprinzip“ und „Sozialpartnerschaft“ ist notwendig, um die bereits hohe Qualität von Gesundheits- und Pensionsversorgung abzusichern und auszubauen.